Fritz Hoffmann wurde am 5. Juli 1898 in Rixdorf (heute Berlin-Neukölln) geboren und starb am 11. Januar 1976 – mit dem Jubiläum der Schule ist also gleichzeitig der Geburtstag ihres Gründers zu feiern. Nach dem 1. Weltkrieg unterrichtete Fritz Hoffmann zunächst an Adolf Jensens Lebensgemeinschaftsschule (u. a. Musik und Deutsch) in der Rütlistraße in Berlin-Neukölln, von 1929 bis 1933 übernahm er die Leitung dieser Schule.
1927 gehörte er zu den Gründern der heutigen Musikschule in Neukölln. 1933 wurde Fritz Hoffmann von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben und als Lehrer an eine andere Schule versetzt. Nach Krieg und Kriegsgefangenschaft und Unterrichtstätiqkeit in Neukölln wurde Fritz Hoffmann zum Schuljahresbeginn 1948/49 die Leitung der 37./38. Schule in Berlin-Neukölln übertragen, der heutigen Fritz-Karsen-Schule. Am 31. März 1964 trat Fritz Hoffmann in den Ruhestand.
Erinnerungen eines Schulreformers
Von Fritz Hoffmann
Es war im Jahre 1919. Ich war mit 20 Jahren aus dem ersten Weltkrieg zurückgekehrt und befand mich in der Schlußausbildung zum Volksschullehrer. Da lernte ich in einer Familie ein sehr kluges, sehr reifes junges Mädchen kennen. Es hatte den Schulbesuch einige Jahre zuvor unterbrochen, um während des Krieges im Geschäft des Vaters zu helfen, war im Oktober 1918 wieder in die Luise-Henriette-Schule eingetreten und hatte das Glück, von einem jungen Oberlehrer namens Karsen unterrichtet zu werden. Begeistert erzählte die Schülerin von diesem Unterricht: von der Fülle der Anregungen, der Tiefe bisher unerkannter Probleme, der Weite der Aspekte, der neuen Haltung des Schullebens. Was in ihren Worten fühlbar wurde, habe ich viel später bei Rilke wiedergefunden, der nach dem Besuch einer schwedischen Samskola schrieb: “Man hat das Gefühl: hier kann man etwas werden. Diese Schule ist nicht etwas Vorläufiges; da ist schon die Wirklichkeit. Da fängt das Leben schon an.” Ich — nach dem Besuch einer preußischen Präparanden-anstalt und eines ebenso preußischen Lehrerseminars — sann betroffen einer Verheißung nach. So also konnte Schule sein!
Zu meinem Glück wurde ich ein Jahr danach selber einem großen Pädagogen in die Hand gegeben, dem im Februar dieses Jahres verstorbenen Adolf Jensen, dem Leiter der Rütli-Schule. So war damals auch für den jungen Lehrer gesorgt. Die Anregungen und Erfahrungen der Arbeit im Rütli-Kollegium haben Jahrzehnte später und wieder nach einem Weltkrieg ausgereicht zu dem Entschluß, Menschen zu suchen, die zum Wagnis eines neuen Schulversuchs bereit waren.
In den häufigen Begegnungen mit den Karl-Marx-Schülern, besonders denen der Aufbauschule und der Arbeiter-Abiturientenkurse, fanden wir Rütli-Lehrer die gleiche Schulbegeisterung wieder, der ich nun schon einmal begegnet war, das Bewußtsein der Einzigartigkeit ihrer Schule im Unterrichtsstil, in allen Arbeits- und Lebensformen und in den gesellschaftsbezogenen Zielstellungen.
Und das Verhältnis der Schüler zu den Lehrern im Arbeitsprozeß? Man muß es gehört haben, wie und in welchen Gedankenverbindungen sie von ihnen sprachen: von Karsen und Marquardt, von Sturm und Koppelmann, von Zwetz und Ziegler und Freese … Wo war der Pennäler geblieben? Diese Schüler waren anders, ganz anders. Ich glaube kaum, daß es unter ihnen eine nennenswerte Zahl solcher gab, die am Ende ihrer Schulzeit “satt” waren; ich glaube, daß die meisten beim Verlassen der Schule in eine Phase des höchsten Angeregtseins und der Lebenserwartungen eingetreten waren, nicht der sentimentalen oder kitschigen, der karriereträumenden und ehrgeizzerfressenen, sondern der Erwartung eines Wirkens, vor allem aber des Mitwirkens, das im gesellschaftlichen Sinne bedeutungsvoll und notwendig war. So wurden Studium oder Lehre schon Jahre voraus durch kraftvolle Impulse bewegt und gerichtet. Ich greife hier nichts aus der Luft; ich bin voller Erinnerungen an Gespräche mit den Schülern und Studenten der zwanziger Jahre, zumal denen der ersten Abiturklasse.
Wie das neue Schulleben auf eine junge Lehrerin wirkte, die unvermittelt und unvorbereitet in die Karl-Marx-Schule eingetreten war, wie es ihr alle mühsam erworbenen Vorstellungen vom Unterrichten und Erziehen zerschlug, wie die Schüler die gänzlich Unsichere aufforderten, zunächst einmal den Unterricht des nächsten Vierteljahres gemeinsam mit ihnen zu planen — so wäre das hier üblich — und sie dadurch gleichsam in die neue Pädagogik einführten, hat uns einmal Frau Temborius geschildert.
Genug: die Schüler erlebten damals ihre große Zeit. Den Nachklang habe ich noch oft gehört und gefühlt: einmal im nächtlichen Gespräch mit einem von ihnen in der Baracke des Gefangenenlagers. Uns beide hat es ein bißchen weich gemacht. Und immer wieder erlebte ich es als Schulleiter, wenn ehemalige Karl-Marx-Schüler ihre Töchter oder Söhne in unserer neuen Karsen-Schule anmeldeten und Erwartung in ihren Augen stand.
Die große Barbarei hat sie alle, die — jeder für sich — ein Schulleben eigener Prägung entwickelt hatten, um die Vollendung betrogen: Adolf Jensen, dsn Dynamischen und pädagogisch so Unbedingten, Wilhelm Blume, der sein einzigartiges Scharfenberg verlassen mußte, das zum Glück wieder erstanden ist, die Leiter und Lehrer der Lebensgemeinschaftsschulen, unter ihnen Karl Linke, der am Hertzbergplatz über Jahre hinaus eng mit der Karl-Marx-Schule zusammengearbeitet hatte und in der projektierten Dammwegschule den Volksschulteil entwickeln sollte, Kurt Löwenstein, der alle Schulversuche schulpolitisch absicherte und der sie schützte, personell und materiell förderte, und Fritz Karsen, den Paul Hindemith, wie er später einmal erzählte, am Zürichsee wiedergetroffen, erschüttert von dem Entsetzlichen, was sich in Deutschland entwickelt hatte und über Europa und die Welt heraufzog.
Lassen Sie mich einmal ein oft strapaziertes Zitat gebrauchen. Ich habe es kaum jemals getan und will es so leicht nicht wieder tun; aber hier drängt es sich mir auf. Das große Ereignis, von dem wir heute sprachen, ist das der geprägten Form, die lebend sich entwickelt. Und das gilt nicht nur für die Persönlichkeit Fritz Karsens, sondern für sein Werk im ganzen und in seinen Teilen: für seine Gesamtkonzeption, für die Differenzierung und Verfeinerung aller Zielvorstellungen, für die Entfaltung der Unterrichts-, Arbeits- und Lebensformen, für die Reifung seiner Lehrer, vor allem aber für die Entwicklung seiner Schüler im Persönlichen, Gesellschaftlichen und Beruflichen.
Als mich die Redaktion unserer Schülerzeitung bei meinem Abgang im März des vergangenen Jahres [*] um ein Abschiedswort bat, schrieb ich am Schluß: “Auch alte Männer träumen manchmal noch voraus. Es wäre meine größte Freude, wenn Ihr alle zu Menschen eigener Prägung würdet, Menschen, die man an ihrer Haltung zu anderen, an ihrer Weltoffenheit, ihrer vielseitigen Interessiertheit, an der Klarheit ihres Denkens und ihrer Empfindung und an ihrer Werk- und Gemeinschaftsfreude erkennt. Vielleicht wiederholt sich, was ich an manchen reifen Männern und Frauen beobachten konnte, die in der alten Karsen-Schule aufgewachsen waren. Ihre Art zu leben und zu wirken hatte unverkennbare Züge. Sie erkannten sich gegenseitig, auch wenn sie sich als Schüler nie begegnet waren, und wurden von anderen erkannt. Von einem solchen Menschen hieß es dann: ,Der muß ein Karsen-Schüler gewesen sein.'” Groß ist die Zahl der Freunde unter den alten und jungen Karsen-Schülern. Ein Teil von ihnen, leider noch immer der kleinere Teil, hat sich zum “Verein der Freunde der Fritz-Karsen-Schule” zusammengeschlossen. In seinem Auftrage überreiche ich Ihnen, lieber Eberhard Klein, ein Bild Fritz Karsens. Wir haben die uns zur Verfügung gestellte Fotografie so weit vergrößern lassen, als es möglich war. Geben Sie dem Bild im Hause einen schönen Platz.
[*] Fritz Hoffmann wurde Ende März 1964 in einer Feierstunde offiziell verabschiedet.
Quelle
Radde, Gerd (Hrsg.): Festschrift für Fritz Karsen. Hrsg. im Auftrag des Freunde der Fritz-Karsen-Schule e.V., Berlin 1966.
Bildnachweis
Archiv der Fritz-Karsen-Schule
Hinweis
Die Rechtschreibung dieses Textes wurde in der Originalversion belassen und folgt deshalb nicht den seit 1. August 2006 geltenden Regeln.