Ein biographischer Abriß von Gerd Radde
In der Rückschau auf das Leben Fritz Karsens, das fast 66 Jahre währte (11. November 1885 bis 25. August 1951), heben sich drei Phasen deutlich ab: die Zeit in Breslau und Magdeburg, die Berliner Epoche und der Lebensabschnitt nach 1933, den man auch die amerikanische Phase nennen könnte.
Hier wirkt Karsen vornehmlich als Hochschulprofessor; in den Berliner Jahren sehen wir ihn als Reformpädagogen in der Stellung eines Oberstudiendirektors; während der Wilhelminischen Ära und zu Anfang der Weimarer Zeit ist er als Oberlehrer tätig gewesen. [1][2] Seine geistigen Grundlagen und sein Rüstzeug für das Amt des Oberlehrers erwirbt er in seiner Vaterstadt Breslau, wo er 1904 am Johannesgymnasium die Reifeprüfung besteht und anschließend insgesamt elf Semester Germanistik, Anglistik und Philosophie studiert, um im Juli 1909 das Staatsexamen in den Fächern Deutsch, Englisch und Philosophische Propädeutik abzulegen. Bereits ein Jahr zuvor hat er mit einer Dissertation über “Henrik Steffens’ Romane” promoviert. Während des Seminar- und Probejahrs legt er Zusatzprüfungen für die Lehrberechtigung in Französisch sowie Turnen und Spielen ab. Am 1. Oktober 1911 etatmäßig angestellt, wird er zunächst ein halbes Jahr an der Oberrealschule in Liegnitz, danach an einer Realschule in Magdeburg als Oberlehrer beschäftigt. In diese Zeit fällt auch seine Heirat mit Erna Heidermann, der Tochter eines höheren Beamten der Stadtverwaltung von Hannover. Im Herbst 1918 übersiedelt das junge Ehepaar nach Berlin, wo sein einziges Kind, die Tochter Sonja Petra, geboren wird.
Während seines zweiten Lebensabschnitts – er umspannt die 14 Jahre der Weimarer Republik – sehen wir Fritz Karsen durchweg in der Reichshauptstadt, ausgenommen die Zeit der Studien- und Vortragsreisen, die ihn in die Tschechoslowakei, nach Dänemark, in die Niederlande, nach Belgien und England, in die Vereinigten Staaten und zweimal in die Sowjetunion führen. In den ersten anderthalb Jahren arbeitet Karsen, der zusammen mit Paul Oestreich, Franz Hilker und anderen Oberlehrern den “Bund entschiedener Schulreformer” gründet, an der Luise-Henriette-Schule in der damals noch selbständigen Gemeinde Tempelhof bei Berlin. Da diesem Lyzeum und Oberlyzeum ein Lehrerinnenseminar angeschlossen ist, kann hier erstmals sein pädagogisch-methodisches Interesse berücksichtigt werden. Doch schon im April 1920 beruft ihn Konrad Haenisch, Preußens Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, als Oberstudiendirektor an die ehemalige Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde, die zu einer Staatlichen Bildungsanstalt (STABILA) umgestaltet werden soll: Fritz Karsen als führendes Mitglied des “Bundes entschiedener Schulreformer” erscheint ihm besonders geeignet für diese Aufgabe. Als der Reformversuch noch im Sommer desselben Jahres infolge politischer und personeller Widerstände abgebrochen wird [3], geht Karsen als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter auf ein Jahr ins preußische Kultusministerium. Er arbeitet im Referat für Versuchsschulen unter Erich Hylla, den er bereits in Lichterfelde kennengelernt hat. Während dieser “schöpferischen Pause” – Karsen ist inzwischen der Sozialdemokratischen Partei beigetreten und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer (ASL) geworden – konzipiert er seine Theorie einer “Schule der werdenden Gesellschaft” [4], die er in Berlin-Neukölln mit Unterstützung des dortigen Stadtrats Dr. Kurt Löwenstein zu realisieren trachtet.
Im Herbst 1921 übernimmt er nämlich die Leitung des Neuköllner Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums, das er im gesamten Unterrichts- und Schulleben nach und nach zu einer sozialen Arbeits- und Gemeinschaftsschule umwandelt und äußerlich zu einem großen Schulkomplex ausbaut. Dieser umfaßt 1928, als die Schüler der sechs Jahre vorher eingerichteten Aufbauklassen die Reifeprüfung ablegen, außer einem grundständigen Reformrealgymnasium und einer Deutschen Oberschule noch eine vollständige Aufbauschule, eine Volksschule und die sogenannten Arbeiter-Abiturientenkurse, in denen aus dem Berufsleben kommende begabte junge Männer und Frauen innerhalb von drei Jahren zur Hochschulreife geführt werden können. [5]
Für alle diese (z. T. in verschiedenen Gebäuden untergebrachten) “Zweige” planen Karsen und seine Kollegen zusammen mit dem Architekten Bruno Taut eine stufenförmig gegliederte Gesamtschule am Dammweg. Sparmaßnahmen stoppen indessen den bereits begonnenen Bau.
Das 1933 an die Macht gelangte NS-Regime verwirft die Konzeption einer großstädtischen “Einheits- und Gemeinschaftsschule” endgültig: Minister Rust entläßt ihren Initiator bereits am 21. Februar, einen Tag vor den Reifeprüfungen in der Karl-Marx-Schule (so ist Karsens Schule im Schuljahr 1929/30 benannt worden). Fritz Karsen emigriert mit seinen Angehörigen zunächst in die Schweiz. Über Frankreich (1934-36) und Kolumbien gelangt er 1938 in die USA, deren Staatsbürgerschaft er sechs Jahre später erwirbt.
Nach dem zweiten Weltkrieg kehrt Karsen vorübergehend nach Deutschland zurück, um eine Stellung als Chef des Hochschulwesens und der gesamten Lehrerbildung bei der amerikanischen Militärregierung anzutreten (1946-1948). Eine Professur für Erziehungswissenschaft an der Universität Kiel schlägt er zugunsten einer ähnlichen Position am New York City College aus: er will US-Bürger bleiben. Drei Jahre später – Karsen gehört jetzt dem Education Department des Brooklyn College als Associate Professor an – ist er vorübergehend Chef einer UNESCO-Kommission, die das ekuadorianische Schulwesen reorganisieren soll; aber während seiner Tätigkeit in Guayaquil ereilt ihn der Tod. Das Bezirksamt Neukölln ehrte sein Andenken, indem es der von Fritz Hoffmann begründeten Einheitsschule in Berlin-Britz den Namen Fritz-Karsen-Schule gab.
Fußnoten
[1] Die angeführten Daten basieren auf Karsens Personalakte und seinem authentischen Lebenslauf (Archiv des Verfassers). Weitere Angaben – auch über die herangezogene Literatur – enthält Gerd Raddes Bericht “Der Schulreformer Fritz Karsen”, in: Bildung und Erziehung, Heft 6/1963. Seite 453-456.
[2] Der Vortrag von Prof. Dr. Sonja P. Karsen befaßt sich insbesondere mit diesem Zeitraum (vgl. S. 46 ff.); die folgenden Ausführungen beschränken sich daher im wesentlichen auf die Zeit bis 1933.
[3] Vgl. Heinrich Deiters, Der Lichterfelder Reformversuch, in: Zeitschrift für soziale Pädagogik, 2. Jahrg. (1920), Heft 1 (Okt.-Dez.), S. 34-39.
[4] Vgl. Fritz Karsen, Die Schule der werdenden Gesellschaft, Stuttgart/Berlin 1921. Derselbe, Die werdende Gesellschaft und die Schule, in: Die Neue Zeit, Jahrg. 1922, 1. Band, S. 373-379.
[5] Vgl. Fritz Karsen, Die Arbeiter-Abiturientenkurse in Neukölln, in: Jens Nydahl (Hrsg.), Das Berliner Schulwesen, Berlin 1928, S. 199-203.
Quelle und Bildnachweis
Radde, Gerd (Hrsg.): Festschrift für Fritz Karsen. Hrsg. im Auftrag des Freunde der Fritz-Karsen-Schule e.V., Berlin 1966.
Hinweis
Die Rechtschreibung dieses Textes wurde in der Originalversion belassen und folgt deshalb nicht den seit 1. August 2006 geltenden Regeln.
Verweise
Fritz Karsen @Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Karsen
Gerd Radde @Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Radde